Du brauchst Ziele im Leben, heißt es. Doch was ist, wenn man die Wege nicht kennt? Martin Petersen hat in seinem Leben schon viele Richtungen eingeschlagen. Erst unterwegs hat er gelernt, wohin er wirklich will. Und dass es völlig okay ist, Hilfe anzunehmen, um dorthin zu kommen.
Dabei hatte Martin Petersen eigentlich einen klaren Plan vom Leben: Er studiert in Kiel Maschinenbau, kniet sich richtig rein. Nebenbei arbeitet er viel, für eine Gussschilderfabrik, eine Veranstaltungsreihe oder eine Versicherung. Viele Jahre lang – bis er kurz vor seiner Diplomarbeit steht. Es fällt ihm immer schwerer mit Stress umzugehen. Nach und nach fängt er an, Dinge vor sich her zu schieben, hält seinen Studienplan nicht mehr ein und bricht schließlich ab. „Ich habe nicht so funktioniert, wie sich die Gesellschaft, wie ich selbst mir das vorgestellt hatte.“ Dann bekommt er die Diagnose Multiple Sklerose, eine Autoimmunerkrankung, und er erkennt, dass er an Depressionen leidet. Sein Neurologe diagnostiziert ihm später eine „Anpassungsstörung“. Ein Schock, aber auch eine Erleichterung: „Da wusste ich, dass ich mir meine Probleme nicht einbilde, dass ich wirklich krank bin und Unterstützung brauche.“ Er ist 37, als der ärztliche Dienst der Bundesagentur für Arbeit eine Eingliederung in eine Werkstatt für behinderte Menschen empfiehlt.
Petersen bewirbt sich bei der Brücke Schleswig-Holstein. Genauer: in der Starthilfe Kiel, einer Werkstatt für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung. Dort arbeitet er im Backoffice, erstellt Dokumente und Tabellen oder bearbeitet Datenbanken. Seine Aufgaben geben ihm und seinem Tagesablauf Struktur. Er kann aber auch an seine Grenzen gehen, sich austesten. „Immer wenn ich das Gefühl hatte, es wird eintönig, konnte ich mir neue Arbeiten suchen.“ Er wird sogar in den Werkstattrat gewählt, das ist die Selbstvertretung der Menschen mit Beeinträchtigung. Dort kann er Denkanstöße geben und mitgestalten, „…zumindest soweit es der Gesetzgeber zuließ“, sagt der Kieler. Er würde sich von der Politik mehr Aufmerksamkeit für die wichtige Arbeit in den Werkstätten wünschen. Und auch mehr Geld für einen besseren Betreuungsschlüssel. „Die Fachanleitungskräfte haben so viel zu tun, auch so viel zu dokumentieren, mehr Personal hieße mehr Zeit für die Menschen.“ Alles in allem findet er seine Zeit in der Starthilfe Kiel aber „ziemlich großartig“. Nur hat er in neun Jahren Backoffice nahezu alles gemacht und gesehen. Martin Petersen will mehr.
Die Integrationsbegleitung der Starthilfe stellt Kontakt zur Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein her. Aus einem dreimonatigen Praktikum in der Verwaltung wird erst ein ausgelagerter Arbeitsplatz, an dem ihm die Werkstatt-Fachkräfte weiter zur Seite stehen und ihn intensiv betreuen. Es läuft so gut, dass daraus ein richtiger Arbeitsvertrag wird. Mit 47 Jahren unterschreibt er seine erste Festanstellung. Nun muss er auch endlich keine Grundsicherung mehr beantragen, für ihn „ein richtig gutes Gefühl, dass alles auf der Gehaltsabrechnung steht“. Die kommt von seinem Arbeitgeber, der wiederum wird über das „Budget für Arbeit“ vom Amt für soziale Dienste bezuschusst. Sein Job macht ihm Spaß, er hat eine 25-Stunden-Woche, aber er muss sich zwischendurch auch selbst ausbremsen: „Hier wäre auch nach Feierabend noch genug zu tun. Ich muss darauf achten, dass ich nicht zu viel abliefern will. Das habe ich in meiner Zeit bei der Starthilfe Kiel gelernt, dort im Arbeitsprozess und in den Stressbewältigungstrainings.“ Ihm ist noch mehr geblieben aus dieser Zeit: „Ich habe so viele liebe Menschen kennengelernt, da sind echte Freundschaften entstanden.“ Und auch die Erkenntnis, dass man nicht immer den Ehrgeiz haben muss alles selbst zu schaffen, sondern sich Hilfe suchen darf. „Was du erlebst ist vielleicht nicht immer toll, aber es ist auch nicht unnormal“ weiß er heute. Es gibt viele Menschen die psychisch krank sind, die wie er unter Depressionen leiden. „Man sieht es uns ja nur nicht an.“ Umso wichtiger ist es darüber zu sprechen, findet Martin Petersen und weiß, dass er ohne Unterstützung nicht da wäre wo er jetzt ist: unterwegs in die richtige Richtung. Er kennt jetzt den Weg.
Foto, Text: Mandy Thomson