„Ich kann Jugendlichen nichts über Sicherheit erzählen, wenn im Hintergrund Sirenen heulen und ich mich selbst alles andere als sicher fühle.“ Es ist der 20. März 2022 als Olga ihre wichtigsten Sachen zusammenpackt und flieht. Aus Odessa nach Kiel. Zu dieser Zeit herrscht in ihrem Heimatland bereits fast einen Monat Krieg.
Olga Farina ist 40 Jahre jung und Psychologin. In der Ukraine arbeitet sie in erster Linie mit Jugendlichen, hilft ihnen mit belastenden Erlebnissen und ihren Folgen besser umzugehen. Klar, dass das nicht funktioniert, wenn das eigene Leben zur Belastung wird. „Ich muss stabil sein um andere zu stabilisieren.“ Olga macht sich allein auf den Weg nach Deutschland. Ihre Mutter flüchtet zwar zur selben Zeit, allerdings nach Tunesien, zu Olgas Schwester.
Bei ihrer Ankunft in Kiel steht Olga zum Glück nicht alleine da. Eine ehemalige Schulfreundin, die bereits seit 20 Jahren in Schleswig-Holstein lebt, vermittelt ihr ein WG-Zimmer und hilft bei Behördengängen. Trotzdem sind vor allem die ersten drei Monate in Deutschland intensiv. „Ich wollte meine Jugendlichen in der Situation nicht allein lassen, habe sie weiter therapiert.“ Einmal pro Woche trifft Olga sich online mit ihren Gruppen. Viele der Kids sind in der Ukraine geblieben, einige sind ebenfalls geflohen. Zeitgleich startet sie eine weitere Therapie: ihre eigene. „Ich habe mich mit mir und meinem Leben auseinandergesetzt. Versuche nicht ständig an den Krieg zu denken oder mich zu fragen, wann er vorbei ist.“
Daneben engagiert sich Olga ehrenamtlich, unter anderem in einem Puppentheater. Ihre engste Arbeitskollegin kommt ausgerechnet aus Russland. Die beiden verstehen sich super. Sie lernt unsere Sprache, besucht einen Deutschkurs und wird aus der sogenannten Grundsicherung unterstützt. Im Juni zieht Olga dann um, in ihre eigene kleine Wohnung: ein Zimmer mit einem Tisch, zwei Stühlen einem Bett und ihrem „Therapie-Sessel“ wie sie ihn nennt. „Hier habe ich alles was ich zum Leben brauche.“
Die 40-jährige ist dankbar. Für all die Möglichkeiten, die Türen, die ihr geöffnet werden, für die finanzielle Hilfe. „Ich wollte was zurückgeben. Ich war selbst wieder stabil, hatte so viel Energie und vor allem auch Erfahrung, die ich teilen wollte.“ Im selben Monat erfährt Olga vom Offenen Treff für ukrainische Geflüchtete bei der Brücke Schleswig-Holstein. Sie geht hin und mit einem Job in der Tasche wieder raus.
Die Psychologin fängt beim Psychosozialen Zentrum für Geflüchtete, kurz PSZ, an. Das Team dort berät, teils muttersprachlich, traumatisierte erwachsene Flüchtlinge sowie ihre Familien, Helfer und Institutionen in ganz Schleswig-Holstein. Und zu diesem Team gehört von nun an auch Olga. Sie ist zunächst als Selbstständige in der sogenannten mobilen Ersthilfe für Geflüchtete aus der Ukraine unterwegs. In Gemeinschaftsunterkünften und Erstaufnahmeeinrichtungen spricht sie mit Menschen, die Ähnliches erlebt haben wie sie.
Mitte August folgt dann die Festanstellung im PSZ und sie unterstützt nun auch im Offenen Treff in Preetz und Plön. Jeder Tag ist anders. Manche Ukrainer*innen wollen über ihre Flucht sprechen, andere haben Fragen zum Leben in Deutschland, zu Unterstützungsmöglichkeiten oder ihrer Zukunft allgemein.
Sehen Sie hierzu einen Beitrag im NDR Schleswig-Holstein Magazin vom 24.06.2023:
https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Gegen-Trauma-Ukrainische-Psychologin-hilft-Gefluechteten,ukrainerin106.html
„Viele Frauen kommen ohne Männer hierher und haben Angst, dass sie sich mit Sprache und Strukturen nicht zurechtfinden.“ Olga versteht ihre Sprache. Und ihre Ängste. Sie versucht den Menschen klarzumachen, wie wichtig es ist, im Moment zu leben und zu lernen, auf sich selbst zu hören. „Denk nicht immer an deine Zukunft, sondern daran, was du jetzt machen kannst und willst. Es ist auch gar nicht so wichtig, wo du hingehst, sondern, dass du dich selbst mitnimmst.“
Worte, die aus ihrem Mund Gewicht haben. Die von einer Frau kommen, die weiß wovon sie spricht. Nicht nur wegen ihres Berufes, sondern vor allem aufgrund ihrer eigenen Geschichte, ihrer Erfahrungen. Und Olga lebt selbst mit dieser Einstellung: „Mein Leben ist hier und jetzt, was in der Zukunft ist, weiß ich nicht.“
Aber sie weiß, dass es kein Zurückkommen gibt in ihr altes Leben. „Die Ukraine ist nicht mehr das Zuhause, was es mal war.“ Davon hat sie sich im März dieses Jahres selbst ein Bild gemacht. Sie hat ihre 70 Jahre alte Mutter zurück nach Odessa gebracht, das Heimweh war zu groß. „Für meine Mama war es ein Nachhausekommen. Dieses Gefühl hatte ich nicht.“ Auch wenn die Angst auf den Straßen für sie nicht mehr so zu spüren war. „Wir waren, wie alle anderen auch, viel spazieren. Die Menschen versuchen – zumindest in dieser Stadt – ein halbwegs normales Leben zu führen. Und zu dieser Normalität gehört das Gefühl von Unsicherheit jetzt eben dazu.“ Um ihre Mutter hat sie deshalb auch keine Angst, sagt sie, „aber natürlich mach ich mir Gedanken.“
Und die macht sie sich auch um ihr Heimatland. Viel mehr um die Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen. Für sie will Olga da sein. „Warum sollte ich meine Erlebnisse und Erkenntnisse, all mein Wissen, für mich behalten? Ich freue mich nicht nur nehmen, sondern auch ganz viel geben zu können.“ Das PSZ bietet ihr den Raum dafür. Hier fühlt sie sich wohl und sicher. Und kann Sicherheit vermitteln.